Die Privatisierung der Gewalt

Die Privatisierung der Gewalt

Luis Martinez, Auszug aus seinem Buch: La Guerre civile en Algérie (1990-1998), Karthala, Paris 1998, 234-238.

Übersetzung aus dem Französischen: algeria-watch

Die Milizen: Die Privatisierung der Gewalt

Die Milizen (1) nehmen seit 1994 aktiv an der Aufstandsbekämpfung teil. Die Milizen, die in der Kabylei entstehen, gehen – im Gegensatz zu denen in der Mitidja – auf eine politische Entscheidung zurück. Die Führungspersönlichkeiten der RCD (Rassemblement pour la culture et la démocratie) und das Mouvement culturel berbère (2) (Berberische Kulturbewegung) riefen seit 1993 die lokale Bevölkerung zur Bewaffnung auf, als einziges Mittel gegen die islamistischen Gruppen. Nachdem diese Forderung zunächst von der Regierung abgelehnt wurde, wird sie nach 1994 akzeptiert. Die Umschuldung der Auslandsschulden und die verschiedenen Hilfen, die Algerien aus dem Ausland erfährt, setzen Mittel frei, die in die Sicherheitspolitik investiert werden.

Drei Arten von Milizen entstehen. An erster Stelle die « Selbstverteidigungsgruppen ». Vor allem in der Kabylei etabliert, sind sie der bewaffnete Arm der regionalen politischen Parteien und Assoziationen. Sie werden von den Sicherheitskräften toleriert, sind allerdings nicht unter deren Kontrolle. Sie entstehen oftmals als Reaktion auf wirkliche oder vermeintliche Drohungen durch die Islamisten. […]

An zweiter Stelle die sogenannten « Widerstands »- oder « patriotischen » Milizen. Das sind Kampfeinheiten, die mit den Kräften der Gendarmerie zusammenarbeiten. (3) Sie erhalten ihre Ausrüstung von der Regierung und werden so zu Hilfstruppen des Innenministeriums. Sie bestehen aus Personen, die von den Islamisten bedroht wurden, oder aus Mitgliedern von Familien eines Opfers der islamistischen Gruppen. Diese Milizen stehen unter dem Schutz von Regierungsorganisationen wie der ONM (Organisation nationale des Mudjahidin). Sie operieren im allgemeinen im Inneren des Landes in der Nähe von Städten und Dörfern. Sie werden von « Landgendarmen » begleitet (in Wirklichkeit ehemalige Kämpfer aus dem Befreiungskrieg, die ihren Dienst wieder aufgenommen haben), wenn sie in die Berge vordringen, in denen Maquis liegen. Die « Widerstands »-Milizen bestehen meistens aus jungen Männern vom Lande, aus deren Familie ein Bruder oder Onkel von islamistischen Maquisards ermordet wurde; sie werden von einem starken Rachegefühl getrieben, das über das der bewaffneten Vorstadtbanden hinausgeht. Diese Milizen werden für viele Übergriffe verantwortlich gemacht und man sagt ihnen eine gewisse militärische Effizienz nach:

« Früher waren es die Mudjahidin, die aus den Bergen kamen, um ihre Angriffe zu machen, jetzt gehen die Milizen in die Berge, um nach ‘Terroristen’ zu suchen. Sie verschwinden für eine Woche und eines Morgens sieht man am Eingang des Dorfes abgeschnittene Köpfe, die auf die Straße gelegt wurden, das sind Köpfe der Mudjahidin, und es waren die Milizen, die sie abgeschnitten und auf die Straße gelegt haben. Es hat sich geändert, es sind nicht mehr die Islamisten, die die Köpfe abschneiden, es sind die Milizen. Wenn die Milizen so weiter machen, dann werden sie in ein oder zwei Jahren alle Mudjahidin getötet haben. Und wegen der Milizen haben sich Mudjahidin ergeben, denn die Regierung hat gesagt: ‘Es wird Gerechtigkeit geben und Rahma (Gnade) für die <Terroristen>, die sich ergeben.’ Und andererseits sagen die Generäle zu den Milizionären: ‘Wenn ihr sie trefft, schneidet ihnen die Kehle durch.’ Diejenigen, die aus Angst in die Maquis gegangen sind, stellen sich lieber, bevor sie von den Milizen erwischt werden. » (in Frankreich 1996 gemachte Aussage eines Einwohners eines kleinen Dorfes)

Schließlich ist noch eine dritte Art von Miliz im Laufe des Jahres 1995 in den Städten des Ostens entstanden, die keine Bezeichnung trägt. Es geht dabei um Privatinteressen. Die Privatmilizen, die von den lokalen Notabeln finanziert werden, haben die Aufgabe, deren Interessen zu schützen. Wie die « Selbstverteidigungsgruppen » in der Kabylei werden auch diese Milizen vom Regime toleriert, ja sogar von den Militärstrategen, die eine Militarisierung auf dem Lande vorantreiben, gefördert, um die Verankerung der islamistischen Maquis zu erschweren. (4)

Die Bildung von Milizen entspricht dem Muster der klassischen Aufstandsbekämpfung der Armeen seit seiner Anwendung im Algerienkrieg durch General Challe. (5) Die Bildung von « Haraka » (Streitkräfte in Ergänzung zur Armee) im Kampf gegen die Maquisards der FLN hat gleichermaßen den Armeen des Apartheidregimes in Südafrika wie auch Perus bei der Bekämpfung des Sendero Luminoso mit der Bildung von « Ronderos » als Modell gedient. Die Milizen in Algerien sind in dieser militärischen Arbeitsteilung damit betraut, das Terrain zu besetzen, um sich wie ein Schädling in die Versorgungsstrukturen der islamistischen Maquisards einzunisten. Im Gegensatz zu den von General Lamari kommandierten Eliteeinheiten zur Aufstandsbekämpfung bleiben sie in den Städten und Dörfern, in denen sie entstanden sind. Die Armee ist hinfort von der Aufgabe befreit, eben dieses Terrain zu kontrollieren. Gleichwohl verläuft der Rückgriff auf die Milizen nicht, ohne daß neue Probleme entstünden, denn deren Mitglieder profitieren mit Hilfe des Krieges von Privilegien – wie z.B. über einen Arbeitsplatz und Einkommen zu verfügen -, die jede Rückkehr zum zivilen Frieden gefährden.

Die Kommunalgarde: die Kontrolle der Stadtzentren

Nach der Schaffung eines spezialisierten Armeekorps und von Milizen bildet der Aufbau einer Kommunalgarde das letzte Kettenglied der Aufstandsbekämpfung. Die Polizei, die bis 1992 vom Regime geringgeschätzt wurde, erfuhr seit 1994 einschneidende Veränderungen auf Betreiben des Innenministers Meziane Chérif (6). In Verbindung mit den Gebietskörperschaften und insbesondere den Leitern der DEC (Délégation exécutive communale) und den Walis (Präfekten) betraut das Innenministerium die lokalen Verantwortlichen mit der Aufgabe, sich in die neuen Instrumente der Aufstandsbekämpfung einzufügen. Das Wachstum der Einnahmen des Regimes seit 1994 erlaubt dem Innenminister, die Sicherheit in den von der Armee im Laufe der Jahre 1993-1994 zurückeroberten Städte zu übernehmen. Die vom Armeekorps zur Aufstandsbekämpfung durchgeführte « Befriedung » der städtischen Räume erlaubt dem Regime, die Stadtzentren von Algier, Blida und Jijel wieder unter Kontrolle zu nehmen, wie auch die wichtigen Kommunen der Mitidja wie Boufarik, Larbaa, Khémis el Khechna usw. Nachdem die Guerillakämpfer von diesen Orten vertrieben und in die Maquis zurückgedrängt sind, schafft das Militär eine Kommunalgarde, die die zurückeroberten städtischen Gebiete kontrollieren soll, und um gleichzeitig das auf die Aufstandsbekämpfung spezialisierte Armeekorps seit 1994 für die ersten Angriffe auf die Maquis einsetzen zu können. In den Vorstädten Algiers, wo sich die bewaffneten Banden, die sich der GIA angeschlossen haben, festsetzen konnten, wendet die Armee die Taktik der « Verwahrlosung » (« pourrissement ») an, in Erwartung einer Umkehrung der Situation. Aber in den Städten, aus denen die Mudjahidin fliehen mußten, übernehmen die Einheiten der Kommunalgarde die Sicherheitspolitik.

Der damalige Innenminister rechnet damit, eine Stärke von 50 000 Mann zu erreichen. (7) Dafür rekrutiert er aus der gleichen Quelle wie die Guerillafraktionen und die lokalen bewaffneten Banden. Junge Anhänger der Ex-FIS treten der Kommunalgarde bei, aus politischem Kalkül oder aus Zwang. In der schwierigen wirtschaftlichen Lage, in der sich die Jugendlichen in Algerien befinden, ist ein Arbeitsplatz bei der Sicherheit ein Glücksfall. Um so mehr als die Mitglieder der Kommunalgarde – im Gegensatz zu den « Milizen » – die Stadtzentren nicht verlassen, auf die sich ihr Einsatzgebiet beschränkt. Selbst wenn sie gelegentlich im Falle von Zusammenstößen Straßensperren errichten, sind die Risiken, die sich dabei ergeben, kleiner als bei den Einsatzgruppen, die die Armee bei ihren « Durchkämmumgs »-Operationen begleiten. Das Regime, das von den internationalen Institutionen finanziell wieder auf die Beine gebracht wurde, ist dazu in der Lage, diesen Rekruten mancherlei Vorteile zu bieten (Wohnung und Auto). Die Kommunalgarde konkurriert also direkt mit den islamistischen bewaffneten Banden des Viertels, denn sie kann die Dienste leisten, die letztere nur anzubieten vermag, wenn ihr Guerrillaunternehmen effizient und lukrativ ist (Schwarzhandel, Import/Export).

Gleichwohl bleibt die Kommunalgarde, selbst in den Stadtzentren, den Operationen von Guerillakommandos ausgesetzt. Sie wird in ihrer Arbeit auch von der GIS (Groupe d’intervention et surveillance) unterstützt, einer Eliteeinheit der Polizei, deren Mitglieder wegen ihrer Bekleidung (sie tragen eine Strumpfmaske) im Volksmund « Ninjas » genannt werden. Da ihre Aufgabe der Kampf gegen die Stadtguerilla ist, verfügen sie über das entsprechende Kampfmaterial (Geländewagen, Kommunikationsapparate, usw.) und sind immer einsatzbereit. Schließlich wird die Kommunalgarde von zivilen Spezialeinheiten unterstützt, die in funkelnagelneuen Fahrzeugen japanischer oder französischer Marken patrouillieren und einen amerikanischen « Look » zur Schau tragen (umgedrehte Baseballmütze und schwarze Sonnenbrille). Für unsere Interviewpartner, Sympathisanten der islamistischen Maquisards, sind sie Prämienjäger, die für die Geheimdienste arbeiten, gesuchte Kämpfer aufspüren, verfolgen und töten. Sie arbeiten offen und strahlen eine dreiste Sicherheit aus, die ihnen sogar ihr « Feind » neidet. Sie werden von manchen wegen ihrer Verwegenheit und Tollkühnheit, die sie dazu treibt, mit offenem Visier zu agieren, bewundert.

 

(1) Die Bezeichnung « Milizen » wird von der Regierung zurückgewiesen: « Auch wenn es gewisse realitätsfremde Politiker (Aït Ahmed) nicht wahrhaben wollen, es gibt keine Milizen in Algerien, es gibt keine Söldner, es gibt nur Algerier, alte Mudjahidin, Kinder der Mudjahidin, und in den Sicherheitskräften und in der Kommunalgarde engagierte Patrioten, die die Bevölkerung gegen Mord, Raub und Vergewaltigung beschützen », erläutert der damalige Premierminister M. Sifi, zit. in Liberté, 9. Mai 1995.

(2) Seit 1993 kehren Jugendliche, deren Familien aus der Kabylei stammen und die in Algier geboren sind, in die Kabylei zurück, um der Unsicherheit, die in der Hauptstadt herrscht, zu entkommen. Der MCB rekrutiert diese Jugendlichen und macht aus ihnen seine ersten « Selbstverteidigungsbrigaden ». La Nation, n° 143, 16.-22. April 1996.

(3) Obwohl die Milizen erst 1994 in Erscheinung treten, übernehmen sie die Taktik der Aufstandsbekämpfung von General Ben Abbès Ghézaïl, Chef der Gendarmerie, der die Bildung von gemischten Brigaden (Gendarmerie, Polizei) vorantrieb gegen das Vorhaben von General Mohamed Lamari, Eliteeinheiten zur Aufstandsbekämpfung aufzubauen. Siehe Nicole Chevillard, « L’armée et les services », in: L’aprés guerre civile en Algérie, Nord-Sud Export Conseil, Juni 1995.

(4) Diese Privatmilizen werden, laut Le Courrier du Maghreb, von den Generälen Betchine (Berater des Präsidenten Liamine Zeroual) und Smaïn an der Spitze des Regimes protegiert und zielen darauf ab, die Bestrebungen des auf Aufstandsbekämpfung spezialisierten Armeekorps von General Lamari zu beschränken (Brief vom 7. Juni 1996).

(5) 1957 entstehen auf Initiative von General Challe Harki-Einheiten, die sich aus muslimischen Algeriern zusammensetzen, die sich aus Überzeugung, Interesse oder Angst auf die Seite des französischen Algerien geschlagen haben. Aufgrund ihrer sozialen Nähe zu den Kämpfern der ALN tragen sie dazu bei, deren Stellung in den Maquis zu schwächen. Die Stärke der « Ergänzungseinheiten » der Armee wurde auf 160 000 Mann geschätzt, aufgeteilt auf « offensive Harkis » und « Selbstverteidigungsgruppen » (Moghazni) der Dörfer. Siehe M. Hamoumou, Et ils sont devenus harkis, Paris 1993, 46.

(6) Meziane Chérif wird am 2 Juli 1995 durch den Präfekten von Annaba Mostefa Benmansour ersetzt, weil er – als extremer Anhänger der Eradicateur-Linie geltend – bei einer Pressekonferenz am 14. März 1995 in Algier äußerte: « Spricht ein Gärtner vom Unkraut? Nein! Er begnügt sich damit, es auszulöschen. Die Terroristen sind wie Unkraut. » Zit. von A. Taher, « L’Algérie déchirée », Politique Internationale, n° 68, Sommer 1995, 19.

(7) Zitiert in Liberté, 2. Januar 1995.

 

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