Offizielle Erinnerung an brutalen Polizeieinsatz von 1961

Gedenken an getötete Algerier in Paris Offizielle Erinnerung an brutalen Polizeieinsatz von 1961

Mit der Enthüllung einer Gedenktafel in Paris ist erstmals offiziell in Frankreich an die Opfer des brutalen Polizeieinsatzes von 1961 gegen algerische Manifestanten erinnert worden. Die Leichen von Demonstranten waren damals in die Seine geworfen worden. Jahrzehntelang wurde die grausame Episode amtlich totgeschwiegen.

Neue Züricher Zeitung, Ch. M. Paris, 17. Oktober 2001

Im Zentrum von Paris, am Pont Saint-Michel ist am Mittwoch durch den sozialistischen Bürgermeister Delanoë eine Gedenktafel «In Erinnerung an die zahlreichen Algerier, die bei der blutigen Unterdrückung der friedlichen Kundgebung vom 17. Oktober 1961 getötet wurden» enthüllt worden. Diese Geste später Anerkennung einer während Jahrzehnten offiziell totgeschwiegenen düsteren Episode aus dem Algerienkrieg blieb wie auch die im Entwurf mehrmals geänderte Inschrift bis zuletzt umstritten. Die bürgerliche Opposition im Stadtrat von Paris hielt sich von der Zeremonie fern, da ihr die Ehrung von einer geschichtsklitternden Einseitigkeit geprägt schien.

In die Seine geworfen

Im Oktober vor 40 Jahren hatte der damalige Polizeipräfekt von Paris, Papon, eine nächtliche Ausgangssperre für alle «muslimischen Franzosen aus Algerien» verhängt. In den Tagen zuvor war es immer wieder zur Ermordung französischer Polizisten gekommen. Seit Anfang 1961, als bereits Unterhändler General de Gaulles mit Vertretern des algerischen Front de Libération Nationale (FLN) in Geheimverhandlungen standen, war der Vollzug der Todesstrafe an algerischen Partisanen ausgesetzt worden. Die algerische Minderheit in Frankreich wurde vom FLN zunehmend unter Druck gesetzt zur Entrichtung einer «Revolutionssteuer» und zur Mobilisierung gegen den französischen Staat. Von Ende September 1961 bis zum Waffenstillstand in Algerien weniger als ein Jahr danach wurden 47 Polizisten im Raum Paris das Opfer algerischer Terroristen; weitere 140 wurden bei Anschlägen verletzt. Als der FLN am 17. Oktober in der französischen Hauptstadt zwischen 20 000 und 30 000 algerische Manifestanten zum Protest gegen die Ausgangssperre in Marsch setzte, war die französische Polizei bereits bis aufs Blut gereizt.

Demonstranten totgeschlagen

Diese Vorgeschichte des fürchterlichen Massakers an den Demonstranten wird nun allzu häufig übergangen. Papons spätere Berufung auf «bürgerkriegsähnliche Verhältnisse» im Herbst 1961 erfuhr schon vor drei Jahren nur höhnische Kommentare, als dieser einstige Vichy-Funktionär wegen seiner Rolle bei der Deportation von Juden aus Bordeaux während der deutschen Okkupation zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Das brutale Vorgehen der ihm unterstellten Polizeikräfte gegen die algerischen Manifestanten in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1961 gehört dennoch in den historischen Zusammenhang gestellt, auch wenn es sämtlichen Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates widersprach und keinerlei Nachsicht oder Rechtfertigung verdient. An mehreren Orten der Hauptstadt wurden die anmarschierenden Demonstranten von der Polizei zusammengetrieben, in der Untergrundbahn abgefangen, in Autobusse gepfercht und zur Polizeipräfektur, in zwei Sportstadien und auf ein Ausstellungsgelände transportiert. Mehr als 11 000 Manifestanten wurden festgenommen, Hunderte misshandelt und Dutzende totgeschlagen. Von den Brücken von Saint- Michel, an der Concorde und auch am Pont de Neuilly warfen die Polizisten Schwerverletzte und Tote in die Seine.

Divergierende Opferzahlen

Dies alles geschah unter den Augen der Öffentlichkeit. Eine Gruppe von Manifestanten wollte sich ins Gebäude des kommunistischen Parteiorgans «L’Humanité» flüchten, dessen Gittertüre jedoch sofort heruntergelassen wurde. Anderntags stand in den Zeitungen etwas von «tragischen Ereignissen» und ganz am Rande von gewalttätigem Polizeieinsatz. Offiziell gab es nur zwei Tote und ein paar Dutzend Verletzte. Zensur und Angst sowie später eine Amnestie sorgten dafür, dass das wahre Ausmass des Massakers während Jahrzehnten verschwiegen wurde und bis heute noch kaum klar zu bestimmen ist. Der Historiker Jean- Luc Einaudi veröffentlichte vor zehn Jahren eine erste umfassende Studie, in welcher von über 200 umgebrachten Algeriern die Rede war. Dies entsprach ungefähr den Angaben des FLN von 1961. Mittlerweile ist Einaudi in neuen Untersuchungen auf die Zahl von 393 Toten gekommen, die sich indes auf den ganzen Zeitraum von September und Oktober 1961 bezieht, während ab dem 17. Oktober 159 Todesopfer zu verzeichnen gewesen sein sollen. Zwei im amtlichen Auftrag ausgeführte Nachforschungen in den letzten drei Jahren gaben 32 beziehungsweise 48 Todesopfer als Bilanz an. Der abgewogener als Einaudi urteilende Historiker Jean-Paul Brunet gelangte vor zwei Jahren nach umfangreichen Untersuchungen auf eine Zahl von 30 bis 50 Todesopfern.

Öffnung der Archive versprochen

Als vor zwei Jahren Papon mit einer Verleumdungsklage gegen Einaudi unterlag, fand erstmals per Richterspruch der Begriff Massaker für die Unterdrückung der Algerierdemonstration von 1961 Eingang in den amtlichen Sprachgebrauch. Die Regierung versprach die Öffnung der Archive, doch ist es damit noch immer nicht weit gediehen. Manches Beweisstück scheint verschwunden, vieles gar nie archiviert worden zu sein. Laut einem Bericht des früheren Geheimdienstchefs Claude Silberzahn sind 4 von insgesamt 11 Kilometern aus Algerien 1962 abtransportierten Archivmaterials noch nicht einmal katalogisiert. Symbolträchtig deutet dies an, dass die Last des Algerienkrieges buchstäblich noch lange nicht «aufgearbeitet» ist. Wie Präsident Chiracs jüngste Ehrenerklärung für die Harkis, Frankreichs einstige Hilfstruppen in Algerien, ist auch die jetzige Gedenktafel kaum mehr als ein kleiner Mosaikstein. Als jüngst zum ersten Mal seit Algeriens Unabhängigkeit ein Fussballspiel in Paris zwischen der französischen und der algerischen Nationalmannschaft stattfand, wurde die Marseillaise mit einem Pfeifkonzert übertönt, und der zugunsten Frankreichs ausgehende Match musste vorzeitig abgebrochen werden, weil Dutzende von Zuschauern mit algerischen Fahnen auf das Spielfeld gestürmt waren.