Vor der Wahl in Algerien flammt Berber-Protest wieder auf

Eine demokratische Fassade

Vor der Wahl in Algerien flammt Berber-Protest wieder auf

Berlin-Online, 30. Mai 2002

ALGIER/BERLIN, 29. Mai. Vor den Parlamentswahlen in Algerien am Donnerstag kam es in der Berber-Region Kabylei erneut zu Ausschreitungen. Im Vorfeld der Wahlen hätten sich all die ungelösten Probleme im Land kristallisiert, sagt Isabelle Werenfels. Sie forscht im Rahmen eines Projekts der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin zu Elitenwandel in der arabischen Welt und hielt sich kürzlich zwei Monate in Algerien auf.

Es gibt neue Massaker sowie Unruhen in der Kabylei. Präsident Bouteflika versprach bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren einen Neubeginn. Gab es Ansätze dafür?

Die Grundprobleme sind geblieben: Die übermächtige Rolle des Militärs in der Politik; die ökonomischen Machenschaften von Regime-Mitgliedern; die sozialen Probleme; die Frage des Umgangs mit Angehörigen der islamistischen Partei FIS, die 1991 durch die Annullierung der Wahlen um ihren Sieg betrogen und verboten wurde; und nicht zuletzt die Frage der nationalen Identität.

Warum riskiert die algerische Führung dann Wahlen?

Militär und Regierung wollen die Fassade der Demokratisierung aufrecht erhalten. Das algerische Regime wird von den USA seit dem 11. September als verlässlicher Partner im Krieg gegen den Terror betrachtet und es will sich diesen Bonus, auch im Interesse von Waffenkäufen, nicht vergeben. Den USA und den Europäern ist Stabilität in Algerien auf Grund ihrer Erdöl- und Erdgasinteressen wichtig.

Kann man faire Wahlen erwarten?

Es wird keine internationalen Beobachter geben und in Algier nimmt jeder an, dass die Ergebnisse wie schon 1997 manipuliert werden.

Die Berber wollen die Wahl boykottieren. Warum?

Nach Ausbruch der Aufstände 2001 wurden zwar einige Forderungen erfüllt. Das gilt aber nicht für zentrale Fragen, die die Rolle der Armee, die sozialen und wirtschaftlichen Missstände betreffen. Diese Forderungen unterstützen auch viele Nicht-Kabylen: « Unser Land ist reich, aber wir werden immer ärmer », hört man oft. Die Boykottfront fordert eine Übergangsregierung, die tatsächlich die Lösung der nationalen Probleme angeht – und glaubt nicht mehr an Veränderungen durch Parlamentsarbeit.

Haben die Islamisten Chancen?

Die Mehrheit der Algerier akzeptiert nur noch Islamisten, die sich formell den demokratischen Spielregeln verpflichtet fühlen. Es gibt derzeit drei islamistische Parteien, die zusammen durchaus einen hohen Anteil der Mandate gewinnen könnten – wenn nicht manipuliert wird.

Welche Ziele formulierten die islamistischen Parteien im Wahlkampf?

Rhetorisch akzeptieren sie Gewaltverzicht und das pluralistische System wie die anderen Parteien. Aber die Islamisten wünschen sich eine wertkonservative Gesellschaft. Streit gibt es über die Reform des Erziehungswesens, welche Rolle die Religion oder Fremdsprachen spielen sollen. Dabei geht es stark um die Frage der Identität in diesem einst von Frankreich kolonialisierten und immer noch frankophil ausgerichteten Land.

War die Arabisierung erfolgreich?

Die Schulabgänger können mittlerweile gut Arabisch und nicht mehr so gut Französisch. Die guten Jobs aber bekommen die, die Französisch und Englisch sprechen. Bemerkenswert dabei ist, dass sich besonders die Islamisten für die englische Sprache einsetzen – gegen Französisch. Das sind Verteilungskämpfe um Jobs, Macht, Geld, die mit der Sprache als Mittel ausgetragen werden.

Konnten Sie sich als Ausländerin in Algerien ohne Angst und ohne Kopftuch bewegen?

Selbstverständlich! Im Zentrum von Algier sieht man Frauen mit Minirock sowie knappen T-Shirts und nur wenige ganz verschleierte Gestalten. Etwas anders ist es in den ärmeren Außenvierteln der Stadt. Aber Gradmesser sollte nicht das Kopftuch sein, sondern wie Frauen agieren – und das tun sie sehr frei.

Das Gespräch führte M. Doering